Am Ende des Weges

für Gertrud

Das ist die Heimat von Gertrud, Dittigheim im Taubertal. Hier wurde sie am 30. Dezember 1930 geboren.

Das ist ihre Familie. Familie Wöppel. Ottilie und Franz ihre Eltern und die Geschwister Elfriede, Gertud und Maria.

Sind das nicht drei fesche Mädels? Gertrud, Maria und Elfriede.

Gertrud als Blumenkind und Ziegen Hirte.

Gertrud und Philipp, ein Paar fürs Leben. Die eiserne Hochzeit stand kurz bevor.

Ein unzertrennliches Paar.

Die neue Heimat. Seit 1956 in Eggenstein, zunächst in der Luisenstrasse, später in der Moltkestrasse 49 und mehr als ein halbes Jahrhundert in der Moltkestrasse 26.

Mama mit Christiane, Thomas und mir.

Ihr letzter Lebensabschnitt war geprägt von Dunkelheit, aber nicht von Kälte. Was sie in ihrem langen Leben an Güte und Herzlichkeit ihren Lieben gab, wurde nun ihr zuteil. Sie haderte, weil die Blindheit sie in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkte. Sie war immerzu emsig, eine wahre Schafferin und konnte am Ende nicht mehr wahrhaben, dass sie zur Tatenlosigkeit verdammt war. In fürsorglichen Gesprächen brachten wir sie wieder auf gute Gedanken und einmal sagte ich ihr, dass sie so viele Jahre für andere da war und es jetzt an der Zeit sei, dass sie sich auf ihren Lorbeeren ausruhen könne. Da schwieg sie einen Moment, lächelte milde und meinte, da hast du Recht, so könnte man das auch sehen.

In der Dunkelheit war sie nicht alleine.

Erschöpft lege ich mich aufs Sofa zum Schlafen und kann doch nicht. Ich möchte ihr Rufen nicht verpassen, wenn sie Hilfe braucht. Dann nicke ich ein und erschrecke, weil ich das Klopfen höre. Ich richte sie auf und sie nimmt meine Unterstützung selbstverständlich und dankbar an. Wir beide fühlen keine Scham, es ist vielmehr eine innige Vertrautheit. Bald lege ich mich wieder zur Ruhe. Zwei Mal noch verlangt sie nach Hilfe. Thomas hat dasselbe erlebt, als er die erste Schicht übernahm. Lukas hat die letzte Tagschicht übernommen und sie aus der Wohnung verabschiedet.

Philipp übernahm die größte Verantwortung und opferte sich regelrecht auf. Dann ist er gestürzt und alles brach auf uns ein. Philipp kam in die Klinik und Gertrud in die Pflege, nachdem der Corona Test negativ ausfiel. Nach einer Woche Quarantäne und dem zweiten negativen Corona Test durften wir sie endlich besuchen. Wir ließen alles stehen und liegen und eilten zu ihr. Der Raum war warm. Wir berührten sie. Wir redeten mit ihr. Sie nahm uns wahr und nickte zustimmend, als wir die Namen von allen Familienmitgliedern nannten. Sie war konzentriert und hörte aufmerksam zu. Bei jedem Namen richtete sich ihr Kopf kurz auf und nickte. Das hat sie verstanden, sie fühlte die letzte Wärme. Am nächsten Abend ist sie eingeschlafen, so wie sie es sich wünschte.

Am Ende ihres Weges war sie nicht alleine.

Gütige Hände, ein Leben lang.

Nach dem Schmerz bleibt die Trauer. Nach der Trauer bleibt die Erinnerung.

So werden wir sie in Erinnerung behalten.

Jetzt gilt unsere gesamte Aufmerksamkeit Philipp, damit er wieder gesund wird.

Ich danke Doris, meinem Bruder Thomas, meinen Söhnen David und Lukas sowie Becci für ihre Wärme und Liebe in diesen schweren Tagen. Abschied nehmen zu dürfen ist eine Gnade.

Was ist im Leben wichtiger als Familie?

30. Dezember 1930 – 16. Oktober 2020

Der kleine Zaunkönig

Der kleine Zaunkönig

Bevor die Fahrt begann, besuchte ich noch einmal unseren Kleingarten in Eggenstein, um Kraft zu tanken. Für zehn Minuten das Gartengrün und die Andersartigkeit des kleinen Paradiesgärtleins dort unten zu erleben. Fasziniert hielt ich inne, als plötzlich die jungen Zaunkönige aufflogen. Ein Küken landete verdutzt auf meinem Arm, um sich nach wenigen Momenten auf Nachbars Kirschenbaum in Sicherheit zu bringen. Junges Leben wurde in die Welt entlassen.

Es war eine lange Fahrt und wir redeten nicht viel. Es war eine bedrückende Stille. Innerlich angespannt, weil wir nicht wussten was uns erwartete. Nach einigen Stunden erreichten wir Ostfriesland und unser erstes Ziel war Martha. Als ich die Kirche betrat und sie von der Ferne sah, fiel eine Last von mir. Sie sah aus als würde sie schlafen. Ihr Gesicht entspannt und wie sie so da lag strahlte sie eine würdevolle Ruhe aus. Wir sahen, sie hatte es gut. Unsere Ängste waren unbegründet. Martha ist eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Wir konnten Abschied nehmen und uns unserer Trauer hingeben. Ein altes Leben hat die Welt verlassen.

Es gab zwei Trauerfeiern für Martha. Eine in Ostfriesland und die Bestattungsfeier in Leopoldshafen, die Dr. Kendel begleitete. Daran nahmen auch unsere Söhne teil. Beide Feiern waren stimmig und wichtig für den Abschied. Abschied nehmen können ist eine Gnade. Und jedes Mal, wenn ich einen Zaunkönig sehe, denke ich an Martha.

Ralf Schreck

 

Abschied

Abschied


Im Kasten am Eingang kündet es an,

bald geht jemand den letzten Gang.

Ein kleines Blatt geht ihm voran,

zeigt seine Lebensadern.

Der Fluss, der Weg, sie enden hier.

Es fällt uns schwer, auch wenn wir hadern.

Ein letztes glimmendes Leuchten,

dann ist es vollbracht,

es beginnt die ewige Nacht.

Scheint dieser Gang für uns als Bürde,

so ist dies ein Ort voll Andacht und Würde.

Die alten Bäume sahen schon viele gehen,

sahen viele in Trauer vor den Gräbern stehen.

Lasst euren Tränen freien Lauf,

dann werden sie euch mit ihren Zweigen berühren.

Geht zur steinernen Wächterin der Stille,

sie wird euch ins Land der Erinnerung entführen.

 

 

Was wären wir ohne Bäume? Wir wären in unseren Seelen ärmer. Ein Grund mehr unseren Friedhof in Eggenstein zu besuchen. Jetzt im Herbst ist es besonders schön beim Spaziergang einen Umweg über den Friedhof zu machen. Wer weiß, vielleicht treffen wir uns bei meiner Freundin, der Wächterin der Stille?

Ralf Schreck – hoffnungsfroher Friedhofsfreund