Der schwarze Ordner – Mein Onkel Paul
Erst spät habe ich ihn kennen gelernt. Erst als ich den schwarzen Ordner von meinem Vater bekommen habe. Und das ist noch gar nicht lange her. Darin befinden sich Briefe, Dokumente und Fotos von Paul. Zwischen den Zeilen liest man Verzweiflung, Trauer, Leid und Ratlosigkeit. Schlagartig bekam ich ein anderes Bild von unserer Familie. Eigentlich war ich gerne bei meinen Großeltern, bei Oma Rosa und Opa Franz in Dittigheim. Die andere Oma, Ottilie und der andere Opa, Franz, lebten auch dort. Wir verbrachten als Kinder die Sommerferien dort. Gewohnt haben wir bei Otti und Franz und Rosa und Franz haben wir besucht. Es waren kurze Besuche aber besondere, weil sie schön waren. Wir wurden gemocht, das spürten mein Bruder und ich. Wir spürten aber auch eine Bedrücktheit, eine Art Trauer. Als Kind habe ich das nie verstanden. Es wurde nie über Paul gesprochen aber er war immer präsent. Und jetzt las ich im Ordner über Paul.
Name : S c h r e c k Paul
Geburtsort : Dittigheim, Lauda-Land-Baden
Geburtstag : 27.6.1925
Dienstgrad : Panzergrenadier
Feldpostnummer : 57 499 C (Einige Tage vorher noch 047 22 E (Panzereinheit) .
Letzter Kampfort : Kirowograd
Letzte Post : 2. Januar 1944
Vermisst seit : 9.I.1944 bei Kirowograd.
Vermisst. Aus den Unterlagen geht hervor, dass mein Opa Franz alles versucht hat das Schicksal von Paul aufzuklären. Suchanfragen wurden gestartet, zahllose Behörden wurden konsultiert. Kriegsheimkehrer wurden ausfindig gemacht und befragt. Vom Soldaten Hofmann, der Pauls Kamerad war, gibt es einen Brief, in welchem sein letzter Kampfeinsatz beschrieben ist …
Das soll es gewesen sein? Aus dem blühenden Leben gerissen? Verheizt in einem sinnlosen Krieg? Heimat? Das bedrückt mich, wenn ich darüber nachdenke und stimmt mich ratlos.
Paul wurde nie gefunden. Das ist bitter. Es gibt kein Grab, an dem man Abschied nehmen konnte. Eltern geben ihre Kinder nicht auf. Das hat mich an meinem Opa Franz beeindruckt, das habe ich verstanden. Was ich nie verstanden habe ist, dass sich Paul freiwillig zum Kriegseinsatz gemeldet hat. Er war bei der Panzertruppe der Wehrmacht. Das erkennt man an den Totenkopfabzeichen seiner Uniform auf einem Foto. Diese Totenköpfe waren ein Traditionsabzeichen der Kavallerie. Was hat ihn bewogen zu tun was er getan hat? Hat er sich von der Nazi Zeit blenden lassen? Wie hätte ich mich verhalten? Paul wurde noch nicht einmal 19 Jahre alt. Das Schlimme dabei ist, dass Paul kein Einzelfall ist. Ähnliche Schicksale gab es in zahllosen anderen Familien. Das dürfen wir nie vergessen. Ich bin dankbar dafür, dass ich in einer Demokratie aufwachsen konnte. Meine beiden Söhne können das auch und beide sind schon älter als 19. Deshalb werde ich dafür sorgen, dass Paul nicht vergessen wird.
Für Paul – nie wieder Braun, nie wieder Krieg